Donnerstag 28 März 2024

Praktika / Qualifizierungen für Menschen mit Behinderungen

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  • Hallo liebe Buchbindergemeinde,


    in meinem jetzigen beruflichen Alltag beschäftige ich mich mit Rehabilitanden (häufig junge Menschen mit Lernbehinderungen und allen anderen erdenklichen Vermittlungshemmnissen) und versuche diese in den ersten Arbeitsmarkt zu integrieren. Dies versuchen wir über lange Praktika (bei uns Qualifizierungen), die häufig 1-2 Jahre andauern zu realisieren und sind dabei recht erfolgreich. Wichtig ist bei diesen Langzeitpraktika, dass eine reelle Perspektive auf ein versicherungspflichtiges Arbeitsverhältnis im Anschluss besteht.


    Mich würde einmal interessieren, wie das bei Euch in den Betrieben ausschaut. Bietet ihr auch Menschen mit Behinderungen eine Chance? Gibt es bei Euch bereits Beschäftigte mit Einschränkungen? Habt ihr regelmäßig Praktikanten und wenn ja, in welchen Bereichen? Welche Erfahrungen habt ihr bisher gemacht?

  • Bietet ihr auch Menschen mit Behinderungen eine Chance?


    Natürlich - wenn die fachliche Leistung stimmt. In Zeiten des Facharbeitermangels stellt sich aus meiner Sicht die Frage nicht. Allerdings muss es sich schließlich für den Betrieb rechnen. Stichwort erhöhte Ausfallzeiten, zusätzliche Kommunikation usw.


    Gibt es bei Euch bereits Beschäftigte mit Einschränkungen?


    Wir hatten mal einen Maschinenführer am Planschneider welcher taub war. Hatte aber eine Ausbildung als Buchbinder. Ging ganz gut. An Maschinen welche sich drehen, kann ich mir das schon nicht mehr vorstellen. Was ist wenn ich nicht höre, dass die Untermesser am Trimmer zu dicht ran sind, oder dass die Fräse am Binder "fertig" ist.


    Habt ihr regelmäßig Praktikanten und wenn ja, in welchen Bereichen?


    Nein. In unserer hochtechnisierten Branche werden die klassischen Hilfskräfte weniger und die Anforderungen an Maschinenführer höher. Eine Ausbildung im Bereich wäre schön. Für Buchbinder/Medientechnologen mit Beeinträchtigung ist das aber selten.


    Welche Erfahrungen habt ihr bisher gemacht?


    Siehe Frage 2.

  • Allerdings muss es sich schließlich für den Betrieb rechnen. Stichwort erhöhte Ausfallzeiten, zusätzliche Kommunikation usw.

    Richtig ist, dass Menschen mit Behinderungen nicht immer zu 100 % die Leistung bringen, wie ein Mitarbeiter ohne Beeinträchtigungen. In der Regel ist es aber so, dass der Arbeitgeber für diese Leistungsminderung finanzielle Förderungen erhalten kann. Stichworte sind hier Eingliederungszuschüsse durch die Agentur für Arbeit, oder die Rentenversicherung. Im Anschluss daran gibt es dann meist auch noch eine Förderung durch den Landwirtschaftsverband Westfalen Lippe (Budget für Arbeit). Häufig sind da finanzielle Leistungen von 40 - max. 70 % der Brotlohnkosten drin und das über mehrere Jahre. Das macht das Ganze dann schon wieder attraktiver.

  • Im jetzigen Betrieb habe ich bisher zwei einjährige Aufbaumaßnahmen mit jungen Menschen erlebt und teilweise begleitet. Was mir bei allen Beeinträchtigungen dieser Menschen auffiel, sie haben in bestimmten Gebieten außerordentliche Leistungen gezeigt. In anderen Bereichen war eher Unterdurchschnittliches zu beobachten. Was nicht schlimm ist. Leider braucht es in unserer Firma Mitarbeiter, die alles können müssen: Druckerei, Weiterverarbeitung, Werbetechnik, Werbemittel-Veredlung, Textildruck, Montage (auch mal bei Regen einen Abfall-Container bekleben) etc.

    Der Punkt ist immer wieder: von betrieblicher Seite müssen auch die Voraussetzungen geschaffen werden, sich um diese jungen Menschen zu kümmern – vor allem in Richtung einer beruflichen Orientierung. Leider erlebte ich, dass diese zwölf Monate nicht genutzt wurden, um mehr als den Fakt einer relativ günstigen »Hilfskraft« zu nutzen.

    Hatte mir betrieblich mehr erwartet. Schade eigentlich. Jedoch sehe ich auch, dass die hiesigen Maßnahmenträger eher passiv die Zeit vergehen lassen als aktiv den jungen Menschen wie auch den Betrieb zu unterstützen. Die paar Euro bringen es dann auch nicht. Die Frage ist dann eher: geht es staatlicherseits um eine wirkliche Förderung zum selbstständigen Leben oder soll nur der Maßnahmen-Träger alimentiert werden?

    Persönlich muss ich leider sagen: bei der heutigen Arbeitsbelastung fehlt einfach die Energie und die Zeit, sich diesen Menschen so zu widmen, wie sie es verdient haben. Was ich bedauere.

    Parallel haben wir jährlich zwei Praktikanten, die ein beruflich orientiertes Abitur anstreben. Da muss man leider manchmal bei den Basics beginnen (fehlerfreie Sätze schreiben, mehr als eine Tätigkeit gleichzeitig beauftragen, Pünktlichkeit, Pausenzeiten, Körperpflege, Verhalten gegenüber den Kollegen etc.). Wo Schatten ist, findet sich aller paar Jahre aber ein Mensch, den man ungern dann in die 12. Klasse entlässt. Aber bei denen weiß man dann, die können später »Alles« schaffen. Und man hat einen kleinen Anteil daran – weil man einfach nicht locker gelassen hat. Der junge Mensch muss es aber auch selbst wollen. Wenn ja, ist eigentlich alles möglich. Inklusive Mitarbeit an einer demnächst erfolgenden Serienfertigung von handgemachten Kunst-Katalogen, für die viele Fertigkeiten schon mal geprobt worden sind. Der betreffende junge Mensch fragt aktuell alle paar Tage nach, dass wir bitte ja nicht starten sollen, bevor seine 14 Tage Schule vorbei sind!

    2 Mal editiert, zuletzt von offizin17 ()

  • Danke für deinen Beitrag, @offizin17.


    Wichtig ist zu wissen, dass es eine Vielzahl an verschiedenen geförderten Maßnahmen und Trägern gibt. Hier gibt es sicherlich gute und schlechtere. Meine Teilnehmenden sind meist sehr schwach, haben in den meisten Fällen keine Ausbildung oder Berufserfahrung. Einige besitzen nicht einmal einen Schulabschluss und/oder können kaum ihren eigenen Namen schreiben. Dennoch lassen sich immer wieder "Nieschenarbeitsplätze" finden, in denen sie Ihre Qualitäten beweisen können. Dies sind dann meistens einfache Tätigkeiten im produzierenden Gewerbe oder Hilfstätigkeiten im Handwerk. Zu beobachten ist, dass die Teilnehmer häufig aufblühen, wenn sie eine Arbeitsaufgabe gefunden haben, die sie bewältigen können.


    Selten gibt es auch Ausnahmen mit Ausbildung und manchmal Abitur, diese Menschen haben dann häufig andere Schwierigkeiten (psychologische Störungen ...).


    Richtig ist, dass all diese Menschen Unterstützung brauchen, bis sie ein Level erreicht haben, dass für alle Seiten tragbar ist. Sowohl vom Träger als auch vom jeweiligen Betrieb.